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„Plusquamperfekt“,
Retrospektive mit Arbeiten aus verschieden Schaffensperioden zwischen 1967 und 2008.
Galerie im Packschuppen, Baruth/Glashütte, 26.10. bis 22.12.2008.
Das flexible System ästhetischer Vielgestaltigkeit von Lothar Schneider, das zwischen Identität und offenen Systemlösungen wechselt, geht häufig auf Landschaftserlebnisse oder auf absurde Szenerien von wiederholten Alltagsbeobachtungen zurück, die sich als poetische Mixtur in einem Verbund von Melancholie und Provokation wieder finden. Er gehört zu jenen Künstlern, die in einer Mischung aus Pathos und Groteske fortgesetzt Alltagsbeobachtungen mit knappen Strichen und Pinselschlägen skizzieren und in gleichberechtigter rhythmischer Ordnung realisieren. Insofern findet beinahe alles produktive Aufnahme, was uns an widerspruchsvoller Komplexität täglich unterkommt. Als Vorlage dient häufig die heimatliche Landschaft, der Lothar Schneider Realitätsfragmente entnimmt. Diese verbindet er mit informellen Strukturen, die als Folge zeitkritischen Reflektionsvermögens zu bewerten sind. Eingeschrieben in dieses rasant durchgeformte Labyrinth sind Fragmente figürlicher Herkunft, die sich als Ausdruck leidenschaftlicher Lebensintensität zu dynamischen Momentaufnahmen steigern. Auf diese Weise sind Mischwesen entstanden, die in einem Kosmos der Disharmonie aufeinanderprallen, einander durchdringen oder überlagern, die sich ergänzen oder zerstören. Letzteres erweist sich auf lange Sicht als permanenter Abrieb, nach dem Sinnzusammenhang in einer Gesellschaft, in der er lebt und arbeitet, zu suchen, einer Gesellschaft, von der er hofft, sie mit seinen Mitteln und Möglichkeiten erträglicher zu gestalten.
Zu den Hauptquellen seiner Kunst gehört das intellektuelle Erfassen eines Gegenstandes, dessen Analyse und psychologische Entzifferung sowie die instinktive, vom Unbewussten gelenkte Gestaltungskraft. Er trägt die Bilder in sich. Ob sie nach außen dringen, hängt von der Unerträglichkeit des Seins, von visuellen Eindrücken ab oder wird durch Ausstellungen anderer Künstler provoziert. Das Verhältnis Mensch-Natur und die Übersteigerungen von Physiognomien und der Gestik, die sich auf den zum Bersten vollen Blättern und in der drängenden Fülle des Figurativen fortsetzt, erinnert an die rudimentäre Figürlichkeit des „Brücke Expressionismus“, ohne jedoch dessen schwellende, ins Uferlos wachsende Pinselströme zu kopieren. Eruptiv, mit geballter Kraft drängt es dann dem Innersten hervor, verbinden sich die gesellschaftskritischen Vorstellungen mit ekstatisch-turbulenten Übersteigerungen. Ohne dass die werkimmanente philosophische und literarische Gedanklichkeit aufgesetzt wirkt oder sich verselbständigt, zielt Schneider auf die Reaktion des vernunftbegabten Geistes. Um die Erkenntnisfähigkeit des Betrachters zu schärfen, provoziert er fortgesetzt den politisch-philosophischen Disput. Drei Dinge hat der Zivilisationskritiker Lothar Schneider sich zum Prinzip gemacht: pointierter Ausdruck, stilistische Pluralität und die handwerkliche Solidität. Fügt man das gernzüberschreitende experimentelle Arbeiten hinzu, in denen das Scheinbare mit dem Wirklichen verknüpft wird, dann ist man schon ziemlich nahe bei ihm. In den überquellenden und partiell farbintensiven Zeichnungen überlagern und durchdringen Sinnlichkeit und Formbewusstsein einander, finden Integration, Improvisation und Metamorphosen gleichzeitig statt. Mit Ironie und Einbeziehung des Grotesken zielt Schneider auf Unzulänglichkeiten und er zeigt in einen bildkräftigen, emotionslosen Prozess Menschen in ihren auferlegten Beschränkungen auf der Suche nach einer lebbaren Utopie. Entstanden sind auf diese Weise grafische Zwitterwesen, die sich in manieristischen Posen üben und sich in einem unlösbaren Rhythmus der Farb-und Gravurübergänge verflechten. Dabei finden Erzählkraft und technische Perfektion ebenso wie absichtsvolles und automatisches Zeichnen zueinander, was im expressiv lapidaren Stil einer turbulenten Bildsprache mündet. Diese verbindet expressive Tendenzen mit Effekten des Pop und der Werbung. Sein Weltbild findet versammelten Ausdruck in dem Tableau mit 350 kleinen zeichenhaften Bilderzählungen. Hier behauptet jedes Bild seine Autonomie, strahlt seine eigene Atmosphäre aus und dennoch wird die kreative und stilistische Korrespondenz mit den anderen deutlich. Jedes einzelne Bild ist Teil des Beziehungsgefüges, das in seiner Gesamtheit auf essentiell gesellschaftliche Themen verweist.
Auch da, wo es eher konstruktiv und ornamental zugeht, wie in den Schwarz-weißen, mit Grautönen vermischten Tusche-Gouache-Zeichnungen, wächst, dank der informellen Gestik in Verbindung mit spiritueller Energie - aus seiner Kunst eine eher phantastische Realität, die Irrationales nicht ausschließt. Es sind geschwungene, in sich schlingernde Formen, abrupte Brüche und Bögen, die er mit der Feder oder dem Pinsel zeichnet und die er auf dem Papier zu phantastischen Figurationen und sinnhaften Metaphern organisiert. Aus simplen geometrischen Formen wie Dreieck, Kreis und Kreuz, aus Erfahrungen mit dem Kubismus und dem Konstruktivismus, entwickelt Schneider ein mikrografisches Netzwerk, mit dessen Hilfe er das Erklärbare mit dem Verborgenen, das Zeichenhafte mit dem Verwunschenen zu einer eigenen Bildlogik verbindet, die mehrdeutige Interpretationen offen lässt. Auch wenn die Linie als bestimmendes Bildelement dominiert, gewinnt das klare und satte, von Leidenschaft bestimmte Kolorit in den Tuschzeichnungen völlige Selbständigkeit. Die kontrastreiche Farbgebung löst sich häufig aus der Vormundschaft der Umrisse, die als grafische Strukturen wie ein Netzwerk die malerischen Flächen kommentieren mit dem Ziel, die Zeichnung mit den Farben in Einklang zu bringen. Intensive Farbigkeit, orchestrale Komposition und die bereits erwähnte figurale Überfülle lassen aber auch die paradiesische Sehnsucht nach harmonischer Einheit von Mensch und Natur aufleuchten. Ein Arkadien, und das weiß niemand besser als Lothar Schneider selbst, dessen Vorstellung letzten Endes Illusion bleiben muss.
Bei aller handwerklich-technischen Experimentierfreude und Virtuosität bleibt Lothar Schneider ein grüblerisch veranlagter Bilderfinder mit hang zum Fabulieren, der aus dem Alltag heraus große ideele Konzeptionen formt und über den ästhetischen Genuss hinaus Sinn stiften will. Von daher definiert sich sein Motivkreis über die menschliche Existenz nicht von ungefähr im Spannungsfeld wet reichender Versuchungen. Aber erst die Empfindsamkeit und die Fähigkeit, hinter die Dinge zu schauen, gewissermaßen die äußeren, empirischen Erscheinungsformen der Dinge zu verwandeln und zu steigern, provoziert den tiefer und nachhaltig wirkenden Dialog mit dem Betrachter.
Herbert Schirmer, Kunstwissenschaftler und ehem. Kulturminister der DDR, 2008
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